Resultate

Franz Gratl
Collaborator RISM Westösterreich & Südtirol

Resultate der RISM-Arbeit im Musikarchiv des Franziskanerklosters Bozen
2003-2007
Impulsreferat auf der RISM-Arbeitstagung im Kloster Einsiedeln am 13. Juli 2007

Seit April 2003 arbeite ich an der wissenschaftlichen Katalogisierung des Musikarchivs des Franziskanerklosters Bozen mit. Bisher habe ich aus diesem Bestand ca. 2500 Titel in die RISM-Datenbank integriert, primär aus dem 17. und 18. Jahrhundert. In singulärer Geschlossenheit spiegelt diese Musikaliensammlung drei Jahrhunderte niveauvoller und kontinuierlich reger ordensspezifischer Kirchenmusikpflege in diesem Kloster wider; zudem belegen große Bestände von Kammermusik verschiedenster Besetzungen, von Musik für Tasteninstrumente und Opernbearbeitungen ein erstaunliches Ausmaß profaner Musikpflege mit internationaler Ausrichtung im Bozner Franziskanerkloster.

Überdurchschnittlich hoch ist die Zahl von Werk-Erstbelegen in der RISM-Datenbank und von Anonyma, letzteres als ein aus dem franziskanischen Ideal der Bescheidenheit resultierendes Ordensspezifikum. 80 % der Erstbelege betreffen Franziskanerkomponisten: In der Tiroler Provinz waren bis ins 20. Jahrhundert kontinuierlich in großer Zahl hervorragende Musiker des Ordens tätig, die das kirchenmusikalische Repertoire mit Eigenkompositionen erweiterten. Erstbelege betreffen aber auch die bedeutendsten zeitgenössischen Tiroler Komponisten, wobei sich Beziehungen zu den wichtigsten regionalen Musikzentren abzeichnen, zum Beispiel zur Innsbrucker Hofkapelle durch Werke der Hofkapellmeister Johann Stadlmayr und Severin Schwaighofer sowie des Hofmusikdirektors Johann Heinrich Hörmann. Schließlich sind in Bozen Komponisten von internationalem Status durch singuläre Werkbelege vertreten, z. B. Michael Haydn mit einer im Werkverzeichnis von Sherman/Thomas nicht verzeichneten Advent-Arie, Leopold Mozart mit einem Oratorium Der Mensch als Gottesmörder, Wolfgang Amadeus Mozart mit einer Bearbeitung der Litanei KV 195 um 1790 und originellen Menuetten über populäre Melodien aus der Zauberflöte, komponiert um 1800 vermutlich von einem Bozner Franziskaner, Franti ek Xaver Brixi mit zwei Werken in Autographen und Johann Zach in Bearbeitungen modo francescano.

Die internationale Bedeutung des Bozner Musikarchivs wird durch eine Quelle zur frühen Klaviermusik Joseph Haydns unterstrichen: Diese Sammelhandschrift enthält drei jeweils durch Autorenangabe im Kopftitel "Sig. Joseph Haydn" zugeschriebene und als "Partiten" bezeichnete Klaviersonaten in einer um 1760 gefertigten Abschrift. Die erste konnte ich als die B-Dur-Sonate Hob. XVI:2 verifizieren, deren Echtheit in der Haydn-Forschung weitgehend akzeptiert wird und für die nun eine dritte sehr frühe und damit für die Überlieferung maßgebliche Abschrift vorliegt; das zweite Werk (Hob. XVI:Es3), eine der in ihrer Echtheit umstrittenen "Raigerner Sonaten", findet sich hier erstmals in der dreisätzigen Fassung Joseph Haydn zugeschrieben. Ein drittes Werk, eine Partita in F-Dur, ist bislang weder bei Hob. noch in der RISM-Datenbank nachgewiesen; die Überlieferung zusammen mit einem echten und einem möglicherweise authentischen Werk Joseph Haydns, zudem die frühe Datierung könnten unter Umständen Indizien für eine Autorschaft des Wiener Klassikers sein. Ich darf dazu verweisen auf meinen Beitrag in Band 9 der "Haydn-Studien" 2006. Quellen aus verschiedenen Tiroler Musikarchiven, so auch aus dem Franziskanerkloster Bozen, führten mich zu einer Neubewertung der Autorschaft des Tantum ergo KV Anh. C 3.04 (früher KV 142). Nach Robert Münster soll es sich um Mozarts Bearbeitung eines Werkes von Johann Zach handeln; ich konnte über Bozen und Quellen in weiteren Tiroler Musikarchiven im Mozart-Jahrbuch 2005 nachweisen, dass Zach als Autor der angeblichen Originalfassung kaum in Frage kommt.

Die ausgewählten Beispiele aus Bozen illustrieren die vielfach internationale Dimension der Dokumentation musikalischer Quellen in den Archiven der Tiroler Franziskanerprovinz. Die weitreichende Relevanz dieser Unternehmung erweist sich neuerlich darin, dass ich kürzlich aufgrund von Tiroler Quellen die Provenienz franziskanischer Handschriften des 18. Jahrhunderts in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz zweifelsfrei klären konnte: Durch Vergleich mit thematischen Katalogen im Konventarchiv des Schwazer Franziskanerklosters konnte ich nachweisen, dass 10 umfangreiche Sammelbände, die im 19. Jahrhundert nach Berlin gelangt waren, ursprünglich aus Schwaz stammen.

Die Erschließung der Quellen für die musikalische Praxis als Teil ihrer umfassenden Dokumentation führte zu bisher zwei Aufführungen von repräsentativen Werken der Tiroler Franziskanermusik des 18. Jahrhunderts. Die Aufführung der um 1710 vom Tiroler Franziskaner komponierten Missa Sanctorum Martyrum, einer paradigmatischen Missa solemnis franziskanischer Prägung für einstimmigen Chor, zwei Vokalsoli, zwei Trompeten, Pauken und Orgel, somit einer dem Armutsideal des Ordens entsprechend gegenüber dem zeittypischen Kirchenensemble reduzierten Besetzung, wurde im Januar 2006 vom Hörfunksender RAI Bozen live übertragen. Im Juni 2007 wurde in Schwaz die um 1740 von P. Cherubin Mayrhofer komponierte Missa Sancti Adjuti für Unisono-Chor, Soli, Solo-Violine und Orgel aufgeführt.

Als Klangbeispiel zum Referat:
P. Gerold Negele OFM, Missa Sanctorum Martyrum (um 1710): Sanctus
Track 4 (4:43, ausgeblendet bei 2:40)