Das Musikarchiv des Franzsikanerklosters Bozen

Singuläres Tiroler Kulturgut von internationalem Rang neu entdeckt:
Das Musikarchiv des Franzsikanerklosters Bozen

Von Hildegard Herrmann-Schneider



Im August 2002 stieß der Provinzarchivar der Tiroler Franziskaner, P. Oliver Ruggenthaler OFM, bei Räumungsarbeiten im Franziskanerkloster Bozen überraschend auf einen sensationellen Fund: Er entdeckte hier Unmengen alter handgeschriebener Noten und Musikdrucke.

Sachverständig wandte er sich an die im internationalen Kontext arbeitende Tiroler Fachinstitution für musikalische Denkmalpflege, das "RISM (Répertoire International des Sources Musicales/Internationales Quellenlexikon der Musik) Landesleitung Westösterreich und Referat Südtirol" mit Sitz im "Institut für Tiroler Musikforschung Innsbruck", um zweifelsfrei klären zu lassen, was er denn nun eigentlich entdeckt hatte.

Die Leiterin des RISM Landesleitung Westösterreich und Referat Südtirol, Frau Univ.-Doz. Dr. Hildegard Herrmann-Schneider, nahm in Kooperation mit P. Oliver Ruggenthaler OFM und unter der Assistenz ihres Mitarbeiters Dr. Franz Gratl im Winter 2002/03 über drei Tage hinweg eine erste kursorische Sichtung der Musikalien vor. Sofort nach den ersten Sondierungen stand eindeutig fest: Der Notenbestand im Franziskanerkloster Bozen ist in seiner Konsistenz ein exzeptionelles Kulturgut, von herausragender Bedeutung sowohl für das gesamte Land Tirol wie für die Musikgeschichte im europäischen Raum.


Der Umfang des Musikalienbestandes im Franziskanerkloster Bozen

Der Fundus ist, entsprechend dem derzeitigem Forschungsstand, nach dem für die internationale Forschung relevanten Musikarchiv von Stift Stams der umfangreichste Musikalienbestand in Tirol, mit einem ebenso entsprechenden hochgradigen Quellenwert.
Er umfasst

1) Musikhandschriften:
etwa 1600 Handschriften aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis um 1900;
ferner
etwa 40 umfangreiche, nachträglich kompilierte Sammelbände mit Handschriften aus dem 18. Jahrhundert, die jeweils um die 50 bis 200 Einzeltitel enthalten, d.h. in Summe um die 3000 Stücke.

2) Musikdrucke:
etwa 700 Drucke,
vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Allein bei den Handschriften sind an die 300 Komponisten unterschiedlichsten Standes vertreten. Sie stammen aus Bozen selbst, aus ganz Tirol, dem gesamten deutschen Sprachraum, der k.u.k. Monarchie, dem südlichen Italien oder etwa aus Frankreich.



Zum Inhalt der Handschriftensammlung

Der Bestand gibt erstmals grundlegenden Aufschluss über die Musikpflege an einem Tiroler Franzsikanerkloster im Zentrum des Landes und wird auch als repräsentativ für andere Franziskanerklöster im deutschen Sprachraum zu werten sein. Er umfasst zu einem großen Teil geistliche Musik unterschiedlichster Gattungen zur Liturgie, stark verbunden franziskanischer Tradition, aber ebenso allgemeinen Zeitphänomenen in spezifisch lokaler wie überregionaler Ausprägung. Alte Besitzvermerke auf den Handschriften belegen, dass ein nicht geringer Anteil ehemals der Stadtpfarrkirche von Bozen gehörte. Damit ergibt sich gleichzeitig ein Einblick in die musikalischen Usancen an einem weiteren bedeutenden Institution geistlichen Lebens in Tirol.

Insbesondere sind hervorzuheben überaus bemerkenswerte, erstmals belegte Bearbeitungen aus klassischen Opern für kammermusikalische Aufführungen wie als Parodien (Bearbeitungen mit neuer Textunterlegung) für den Gebrauch zum Gottesdienst. Sie stellen einen vergleichsweise außergewöhnlich hohen Bestandsanteil dar und werden erstmals Rückschlüsse ermöglichen zu einer spezifischen Rezeption von italienischem und deutschen Opernrepertoire aus der Zeit von etwa 1700 bis in das 19. Jahrhundert in Tirol.

Auch sind zahlreiche weltliche Werke, wiederum in verschiedenartigsten Strukturen, für Orgel, Klavier oder, auffallend häufig, für die im 19. Jahrhundert moderne Physharmonika (ein Prototyp des Harmoniums) vorhanden, Kammermusik im Original und in Bearbeitungen, Salon-, Blas- und Marschmusik, Männerchöre.

Ein großer Teil des Bestandes ist anonym überliefert, so dass sich nach einer wissenschaftlichen Erschließung, die auch die Identifizierung der Anonyma umfasst, weitere Aspekte zeigen werden.



Eine Auslese von Besonderheiten

Ein für die Tiroler Musikgeschichte kostbares Unikat in der Sammlung bildet der wohl weitgehend geschlossene musikalische Nachlass des Bozener Pfarrorganisten und Kapellmeisters Jakob Schraffer (1799-1859). Er umfasst ca. 160 Handschriften, überwiegend Autographe, aus allen Schaffensepochen des Musikers.

Hunderte von Kompositionen aus der Feder von bekannten und unbekannten Tiroler Franziskanern des 18. und 19. Jahrhunderts bedingen vielfach eine neue Positionierung der Musikgeschichte des Ordens, einschließlich seiner künstlerischen Wechselbeziehungen mit dem Umfeld seiner Wirkungsstätten.

Neben Autographen überregional bedeutender Komponisten, wie etwa Franz Xaver Brixi (1732-1771), Domkapellmeister in Prag oder Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901), Organist, (Hof-) Kapellmeister und Hochschulprofessor in München enthält der Bestand zahlreiche Kopien von geistlichen und weltlichen Werken in singulärer Version von Meistern der Klassik, so von Wolfgang Amadeus Mozart, seinem Vater Leopold Mozart, Josef Haydn, Ludwig van Beethoven oder dem aus Böhmen stammenden Johann Zach, der angesehener Hofkapellmeister des Bischofs von Mainz war und sich um 1770 wiederholt in Tirol aufhielt.

Mehrfach ist Michael Haydn als Komponist genannt: Diese Werke sind teilweise weder in seinem Werkverzeichnis (von Charles H. Sherman und T. Donley Thomas, 1993) enthalten noch derzeit in irgendeiner Parallelüberlieferung nachweisbar, die Autorschaft wird nachdrücklich zu prüfen sein.

Eine stattliche Auswahl des einst führenden zeitgenössischen, doch heute nicht mehr geläufigen Musikrepertoires aus namhaften Musikstädten wie Wien, Prag, Paris oder München ist nun auch in Bozen belegt.

Besonders weitgespannt ist das Volumen an wertvollen Tirolensien. Dies zeigen die vielen, häufig erstmals belegten Werke von arrivierten Tiroler Komponisten, unter vielen anderen im Autograph von

Giuseppe Anzoletti (1823 Bozen - Bozen 1892), Geiger und Dirigent in Bozen und Trient,
Josef Alois Holzmann (1762 Hall - Hall 1815), Pfarrorganist in Hall i.T.,
Josef Eduard Ploner (1894 Sterzing - Innsbruck 1955), Musikpädagoge in Innsbruck,
Franz Schöpf (1836 Girlan - 1915 Bozen), Pfarrorganist in Bozen, führender Cäcilianer,
Johann Baptist Schöpf OFM (1824 Seefeld - Bozen 1863), Organist, Archivar,
Peter Singer OFM (1810 Häselgehr - Salzburg 1882), Organist und Musiktheoretiker,

in Kopie von
Franz Bühler (1760 Schneidheim/Nördlingen - Augsburg 1824), u.a. Kapellmeister
bei Anton Melchior von Menz und Pfarrorganist in Bozen,
Giovanni Abondio Crotti (1682 Pergine - Bozen 1731), Pfarrchorregent in Bozen,
Johann Baptist Gänsbacher (1778 Sterzing - Wien 1844), Domkapellmeister in Wien,
Moritz Gasteiger OFM (1782 Schwaz - 1865 Reutte), Organist und Musiktheoretiker,
Josef Alois Ladurner (1769 Algund - Brixen 1851), Konsistorialrat und Hofkaplan in Brixen,
Wilhelm Lechleitner CRSA (1779 Stanzach/Lechtal - Neustift 1827), Chorherr in Neustift,
Nonnosus Madlseder OSB (1730 Meran - Andechs 1797), Organist und Chorregent
in Andechs,
Matthäus Nagiller (1815 Münster - Innsbruck 1874), Professor in Paris, Kapellmeister
in Partschins und Bozen, Direktor des Innsbrucker Musikvereins,
Josef Netzer (1808 Zams - Graz 1864), Kapellmeister in Wien, Leipzig, Mainz und Graz,
Johann Stadlmayr (um 1575 Freising ? - Innsbruck 1648), Hofkapellmeister in Innsbruck,
Marian Stecher OSB (1754 St. Valentin auf der Haide - Meran 1832), Konventuale
in Marienberg, Organist und Kapellmeister in Trient und Meran,
Johann Elias de Sylva (1716 Innsbruck - Innsbruck 1798), Pfarrchorregent in Innsbruck,
Michael Benedikt Widmann (1745 Brixen - Brixen 1797), Hofmusiker in Brixen.

Das Archiv weist die in einem Komplex bislang dichteste Überlieferung von Tiroler Musik zur Weihnachtszeit auf.


Musikhandschriften und Musikdrucke - Denkmäler der Musikgeschichte

Insbesondere Musikhandschriften bringen authentische Informationen zu Leben und Werk von Komponisten, zur Aufführungspraxis oder zur Rezeptionsgeschichte von Musik. Aus jedem Notenbestand, gleich welcher Provenienz, sind untrügliche Hinweise auf die musikhistorische Vergangenheit eines Ortes und seiner Umgebung, aber auch oft musikalische Beziehungen zu entfernten Institutionen oder Musikerpersönlichkeiten abzulesen. Aus anfänglich möglicherweise unscheinbaren Detailinformationen lässt sich sukzessive ein vollendetes Bild zusammenfügen.

So wie die Denkmäler der Kunstgeschichte oder etwa der Archäologie aufwändig erforscht, unter Schutz gestellt, restauriert und präsentiert werden, so sind auch die primären Zeugnisse und Denkmäler der Musikkultur, also vorrangig Musikhandschriften und Musikdrucke, sicherzustellen, sorgfältig zu dokumentieren und einer wissenschaftlichen wie künstlerischen Auswertung zuzuführen.


Die wissenschaftliche Erschließung des Bestandes

Im Rahmen einer Pressekonferenz wurde der Notenbestand im Franziskanerkloster Bozen am 3. April 2003 von Guardian P. Dr. Willibald Hopfgartner OFM und Hildegard Herrmann-Schneider der Öffentlichkeit vorgestellt. Vertreter der Medien von Presse, Rundfunk und Fernsehen waren der Einladung dazu zahlreich gefolgt, ebenso führende Experten der Tiroler Geschichtsforschung, der Denkmalpflege und regionalen Musikszene. Überdies war Südtirols Kulturlandesrat Dr. Bruno Hosp persönlich anwesend und von der Bedeutung des Fundes für die Kulturgeschichte in Europa absolut überzeugt. Er sagte daher unmittelbar die finanzielle Unterstützung des Projektes der wissenschaftlichen Katalogisierung der Musikalien durch RISM (Landesleitung Westösterreich und Referat Südtirol) nach internationalem Fachstandard von seiten des Landes Südtirol zu.

Für das vermehrt anzustrebende Zusammenwirken von musikhistorischer Forschung und musikalischer Praxis wurde bereits bei der Pressekonferenz ein gelungenes Exempel gesetzt: Zwei junge Absolventen des Bozener Franziskanergymnasiums (Sarah Kronbichler und Benjamin Steinmair) spielten aus einer Handschrift von 1814 im Bozener Franziskanerkloster einige Sätze aus Mozarts "Zauberflöte" in einer Bearbeitung für Flöte und Violine, die in ihrer Art bislang im internationalen Kontext ein Unikat darstellt. Auf der gegen Jahresende 2003 erscheinenden CD-ROM "RISM Serie A/II. Musikhandschriften nach 1600. Thematischer Katalog" (11. Ausgabe, München [u.a.]: K. G. Saur Verlag) wird die Beschreibung dieser Handschrift bereits publiziert und danach auch über die Datenbanken des RISM im Internet abrufbar sein. Diese 11. Ausgabe der RISM-CD-ROM wird ferner weitere 61 repräsentative, von Hildegard Herrmann-Schneider bisher erstellte Titelaufnahmen aus dem Musikarchiv der Franziskaner (mit dem international gültigen RISM-Bibliothekssigel "I BZf") enthalten.

Die Planungen zur Realisierung des mehrjährigen, überdimensionalen Katalogisierungsprojektes "I BZf" in der Zusammenarbeit von Südtiroler Landesarchiv (Direktor Dr. Josef Nössing), Verband der Kirchenchöre Südtirols (Vorsitzender P. Urban Stillhard OSB) und RISM Landesleitung Westösterreich und Referat Südtirol (Leitung Univ.-Doz. Mag. art. Dr. phil. Hildegard Herrmann-Schneider) sind bereits angelaufen.